Grundlagen
Begabungs- und Begabtenförderung
Ob eine Person hochbegabt ist, ergibt sich aufgrund verschiedener Faktoren, die unter bestimmten Umständen Bedingungen schaffen, mit denen besondere Leistungen möglich werden.
Es gibt zahlreiche Modelle, um Hochbegabung zu veranschaulichen. Im Folgenden wird Begabung als Zusammenspiel von individuellen Begabungsfaktoren, nichtkognitiven Persönlichkeitsmerkmalen und Umweltmerkmalen verstanden. Begabung umfasst neben intellektuellen auch künstlerisch-kreative und soziale Bereiche. Besondere Begabungen sind synonym zu besonderen Fähigkeiten und werden Kindern zugeschrieben, die in einem oder mehreren Bereichen herausragende Leistungen zu erbringen vermögen und damit ihrer Altersgruppe deutlich voraus sind. Ist der Entwicklungsstand in einem oder mehreren Bereichen in ausgeprägtem Masse überdurchschnittlich, wird von Hochbegabung gesprochen.
Merkmale hoher Begabung
Forschungen mit der Frage beschäftigt, wie sich Hochbegabung zeigt. Diese Erkenntnisse geben wichtige Hinweise dazu, wie hochbegabte Kinder und Jugendliche schulisch besser gefördert werden können.
Bereits im Vorschulalter gibt es Merkmale, die auf eine überdurchschnittliche Begabung hindeuten können. Die Diagnose bei so jungen Kindern ist allerdings heikel, weil ihre Entwicklung noch zu wenig stabil ist, als dass sich da zuverlässige Prognosen stellen liessen. Solche Kinder sind in ihrer geistigen Entwicklung den Gleichaltrigen oft voraus. Sie verfügen über ein erstaunliches Gedächtnis und zeigen eine starke Neugierde, grosse Wissbegierde sowie eine hohe Konzentrationsfähigkeit, mit der sie ihren Interessen nachgehen. Viele begabte Kinder sprechen schon früh, erwerben sich schnell einen grossen Wortschatz und lernen das Lesen aus eigenem Antrieb («frühlesen»). Gewisse begabte Kinder zeigen ein frühes Interesse für Mathematik («frührechnen»). Die allgemeine Entwicklung von begabten Kindern verläuft oft dem Alter entsprechend. Es kann aber sein, dass in verschiedenen Intelligenzbereichen grosse Entwicklungsunterschiede bestehen. Das kann beim betroffenen Kind zu inneren und äusseren Spannungen führen.
Im Schulalter kommen weitere beobachtbare Merkmale hinzu, die auf besondere Begabungen hinweisen können. Allerdings wäre eine Diagnose allein aufgrund dieser Merkmale fehleranfällig und nicht alle Merkmale müssen bei einem Kind erkennbar sein, damit es als hochbegabt gelten kann.
Merkmale des Lernens und Denkens
- Hohes Detailwissen
- Ausdrucksvolle Sprache
- Schnelle Auffassungs- und Beobachtungsgabe
- Schnelles Erkennen grundlegender Prinzipien und Durchschauen von Ursache-Wirkungs-Beziehungen
- Eigenmotiviertes, häufiges Lesen
- Schnelles Herstellen gültiger Verallgemeinerungen
- Kritisches und unabhängiges Denken
Merkmale der Arbeitshaltung und Interessen
- Völliges Aufgehen in der Lösung bestimmter Probleme («Flow»)
- Bemühen, Aufgaben vollständig zu lösen
- Langeweile bei Routineaufgaben
- Hohe Leistungsziele und Streben nach Perfektion
- Selbstkritisch
- Vorliebe für unabhängiges Arbeiten in eigenem Tempo
- Breites Interessenspektrum für Erwachsenenthemen
- Merkmale des sozialen Verhaltens
- Beschäftigung mit Begriffen wie Recht – Unrecht, Gut – Böse
- Gehen nicht um jeden Preis mit der Mehrheit
- Individualistisch
- Akzeptieren keine Meinung von Autoritäten, ohne sie kritisch zu prüfen
- Können planen, organisieren und Verantwortung übernehmen
- Bevorzugen Freundschaften mit Gleichbefähigten, häufig Älteren
- Wollen über ihre Situation selbst bestimmen
- Sensibilität für die Probleme anderer
Vorurteile gegenüber hochbegabten Kindern
Die Thematik der Hochbegabung ist in der Öffentlichkeit selten wertfrei aufgegriffen worden: Sie reicht von Diskussionen zu Genie und Wahnsinn über ablehnende Haltungen gegenüber Streberei und Elitebildung bis hin zur Bewunderung von vermeintlich mühelos erbrachten Höchstleistungen. Auch heute noch wird Hochbegabten mit Vorurteilen begegnet, die relativiert werden müssen.
- Hochbegabte Schülerinnen und Schüler haben, wie andere Kinder auch, Bedürfnisse im Bereich der Anerkennung, der Entwicklung und des Lernens. Auch wenn sie in bestimmten Gebieten ihrem Alter voraus sind, heisst dies nicht, dass sie deshalb im sozio-emotionalen Bereich ein Defizit haben.
- Hochbegabte Schülerinnen und Schüler erbringen nicht dauernd herausragende Leistungen. Anregende Lernumgebungen und herausfordernde Aufgabenstellungen, bei denen die Schülerinnen und Schüler Probleme kreativ angehen können, unterstützen sie dabei, hohe Leistungen zu erzielen. Hilfestellungen in der Schule werden auch bei diesen Kindern nicht überflüssig.
- Hochbegabte Schülerinnen und Schüler gehen mit ihren Begabungen sehr unterschiedlich um. Nicht alle fühlen sich in der Schule unterfordert und brauchen besondere Unterstützungsmassnahmen. Genauso gibt es aber Schülerinnen und Schüler, die ihr Verhalten und ihre Leistungen der Klasse anpassen oder – beispielsweise weil es ihnen langweilig ist – «ganz abschalten».
Ohne spezielle Förderung bleiben ihre Leistungen hinter ihren Fähigkeiten zurück. Die Wissenschaft nennt diese Schülerinnen und Schüler «Minderleister».
- Alle Kinder sind gern mit Menschen zusammen, mit denen sie ihre Interessen teilen können. Bei Hochbegabten trifft dies oft auch auf ältere Kinder oder Erwachsene zu. Dass sie deshalb aber keine oder weniger Freunde hätten, kann daraus nicht geschlossen werden.
Begabtenförderung in der Schule
Die Volksschule hat den Auftrag und das Ziel, die Begabungen aller Kinder und Jugendlichen zu wecken und zu fördern (siehe § 2, Abs. 4, VSG). Dies schliesst die Förderung begabter und hochbegabter Kinder und Jugendlicher mit ein.
Besondere Begabungen können sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise manifestieren. Dies macht das Erkennen von begabten Schülerinnen und Schülern anspruchsvoll. Nicht nur herausragende schulische Leistungen können ein Hinweis sein, sondern auch gelangweiltes, unengagiertes oder sehr zurückhaltendes Verhalten. Der Einsatz von Beobachtungsbogen, Gespräche mit den Eltern und Fachpersonen oder auch schulpsychologische Abklärungen können hier Hilfe bieten. Um adäquate Massnahmen zu planen, ist es wichtig, sowohl die individuellen Voraussetzungen des Kindes als auch seinen (schulischen) Kontext zu berücksichtigen.
Die Begabungs- und Begabtenförderung lässt sich grundsätzlich in Angebote zur Anreicherung (Enrichment) und zur Beschleunigung (Akzeleration) unterteilen. Begabungsförderung meint die individuelle Förderung aller Lernenden, (Hoch-)Begabtenförderung bezieht sich auf die Schülerinnen und Schüler, die einer Förderung bedürfen, die in der Regelklasse allein nicht erbracht werden kann.
Zu den Anreicherungsangeboten zählen die selbstständige Arbeit an eigenen Projekten während des Regelunterrichts, Arbeiten im Ressourcenzimmer (Räume mit vielfältig anregendem Material wie Bücher, Bilder, Karten, Modelle, Computer etc., das zum selbstständigen Experimentieren und Forschen herausfordert und für die Bearbeitung eigener Projekte genutzt werden kann), Gruppenförderstunden usw.
Zu den Beschleunigungsangeboten zählt nicht nur das Überspringen einer Klasse, sondern auch der Besuch einzelner Lektionen in anderen Klassen oder das Compacting (Komprimieren des Pflichtstoffes zugunsten von individueller Anreicherung des Lernstoffes).
→ Website Kanton Zürich > Besonderer Bildungsbedarf > Begabtenförderung
Stand der Begabtenförderung
Gemäss Volksschulgesetz dienen die sonderpädagogischen Massnahmen allen Kindern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen, sie sind also nicht beschränkt auf Kinder mit Behinderungen oder erschwerten Lern- oder Verhaltensvoraussetzungen; es sollen auch die besonders Begabten erfasst werden. Im Vordergrund steht dabei der Grundsatz der integrativen Förderung: Die Schülerinnen und Schüler werden wenn immer möglich in der Regelklasse unterrichtet (VSG § 33).
Begabtenförderung soll also vorzugsweise innerhalb der Schulen und Klassen des regulären Schulsystems organisiert werden. Die angestrebte integrative Förderung zu etablieren, ist jedoch ein anspruchsvolles Unterfangen. Sie verlangt von den Lehrpersonen einerseits vermehrt individualisierende Unterrichtsformen, andererseits müssen die Beteiligten bereit sein, neue Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln, was wiederum flexible Arbeits- und Organisationsstrukturen innerhalb eines Schulhausteams erfordert. Eine mögliche Entlastung kann die Schaffung von Gruppenkursen für Begabte darstellen. Gerade in grösseren Gemeinden lässt sich damit die Begabtenförderung teilweise delegieren (VSM § 5). Längerfristig sind integrative Massnahmen zu stärken, denn sie erweitern die Möglichkeiten, mit Heterogenität in der Schule generell umzugehen, und kommen damit allen Kindern zugute. Unter diesem Aspekt ist integrative Förderung und binnendifferenzierter Unterricht ein Thema der Team- und Schulentwicklung.
An der Volksschule haben sich Fördermassnahmen innerhalb der Regelklasse etabliert. Sie werden oft ergänzt durch ein gesondertes, stundenweises Angebot für begabte Schülerinnen und Schüler, die trotz individueller Lernbegleitung und binnendifferenziertem Unterricht in der Regelklasse nicht ausreichend gefördert werden können. Um zu vermeiden, dass solche Angebote ausserhalb der Regelklasse separierend wirken, sind Zusammenarbeit und Austausch aller Beteiligten erforderlich. Wie bei den Kindern mit schweren Lern- oder Verhaltensstörungen kann allerdings der Fall eintreten, dass die integrative Förderung nicht ausreicht und sich eine auswärtige Schulung aufdrängt. So sieht denn VSG § 14 die Möglichkeit vor, auch besondere Schulen für Hochbegabte zu bewilligen. Bei den Schulevaluationen durch die Fachstelle für Schulbeurteilung wird jeweils eine Auswahl unterschiedlicher Qualitätsbereiche überprüft. Einer davon ist «Individuelle Lernbegleitung», ein anderer betrifft «Integrative sonderpädagogische Angebote». In diese beiden Bereiche fliesst die Qualitätssicherung der Begabtenförderung mit ein.
Weiterführende Informationen
→ Website Kanton Zürich > Besonderer Bildungsbedarf > Begabtenförderung